Mann mit Brille und rotem Sportshirt

“Serve my interests, not your lazy profiles”: Die Potentiale „der Alten“ für die Wirtschaft 5/5 (9)

Warum hat die relevante Zielgruppe 18-49 ausgedient? Was können Unternehmen tun, um passende Lösungen für eine alternde Gesellschaft anzubieten?

Frank Leyhausen plädiert in seinem Gastbeitrag dafür, ältere Zielgruppen im Marketing differenzierter anzusprechen und statt Alterskategorien individuelle Lebensphasen zu berücksichtigen, um relevantere Produkte zu entwickeln.

Von Frank Leyhausen

“Serve my interests, not your lazy profiles”, sinngemäß „Kümmere dich um meine Bedürfnisse und nicht um deine simple Zielgruppendefinition“ lautet der Titel eines Artikels im „Campaign“, dem Fachmedium der Werbebranche. Verfasst wurde er 2019 von Vicki Maguire, zu dieser Zeit Kreativchefin bei Grey in London, einer der TOP Werbeagenturen der Welt.

Was war passiert?

Vicki, damals Anfang 50, regte sich in diesem Artikel über die Werbebranche auf, denn über Social-Media wurden ihr Hörgeräte und gepolsterte Einlegesohlen zum Kauf angeboten.

Sie ahnen es: Der Algorithmus der Online-Werbung hatte sie in die Gruppe 50plus gesteckt und die passenden Anzeigen „ausgespielt“.

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Frank Leyhausen © privat

Mich regt das auch auf! Regt Sie das auch auf? Menschen ab einem bestimmten Alter einfach als eine homogene Gruppe zu sehen?

Egal ob 50plus, 60plus oder 65plus, durch eine willkürliche Altersgrenze werden vermeidlich homogene Gruppen aggregiert und damit Menschen kategorisiert. Alle in einer solchen Gruppe, ob Mann oder Frau, ob 51 oder 83 Jahre alt, sind gleich und haben identische Bedürfnisse. Das ist einfach, einfach dumm, wenn nicht diskriminierend.

50plus. Seit sechzig Jahren ohne Update

Schauen wir uns an, wie die Zielgruppe 50plus entstanden ist. In Deutschland hat sich 50plus im Zuge der Privatisierung des Fernsehens etabliert. Um 1984 hat der damalige Geschäftsführer von RTL, Helmut Thoma, die „relevante Werbegruppe 18-49“ definiert. Menschen 50plus waren „der Rest vom Schützenfest“ und nicht im Fokus der Vermarktung der Fernsehsender. In einem Interview mit dem Manager Magazin in 2020 gab Thoma zu, dass die Entwicklung und Beschreibung der relevanten Werbegruppe rein willkürlich entstanden sei.

Eine Definition, die vor fast 40 Jahren entstanden ist, wird heute noch immer im Marketing verwendet. Derart lange Halbwertszeiten sind in der schnelllebigen Welt der Werbung nur selten zu finden.

Was ist die Alternative?

Was können Unternehmen tun, um passende Lösungen für unsere alternde Gesellschaft zu entwickeln und zu vermarkten?

Zunächst einmal müssen sie erkennen, dass Lebensjahre alleine nichts über einen Menschen aussagen. Es bedarf weiterer Faktoren, um eine relevante Zielgruppe zu definieren, wobei das Alter eine Hilfsvariable sein kann.

Statt Menschen in Altersgruppen zu pressen, ist es wichtig, Rollen und Lebensphasen zu erkennen, in denen sich Bedürfnisse verändern.

Ein Beispiel und aktuell mein Lieblingsthema ist der Ruhestand.

Der Übergang in den Ruhestand zählt, zumindest für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), zu den „kritischen Lebensereignissen“.

Der Grund: Von heute auf morgen ändert sich fast alles im Leben.

Diese massiven Veränderungen können überfordern und in der Folge auch die (psychische) Gesundheit beeinträchtigen.

Hinzu kommt, dass wir ohne Erfahrungswerte in den Ruhestand gehen. Den Übergang in den Ruhestand und die damit verbundenen Veränderungen erleben wir nur einmal im Leben. Im Gegensatz zum Wechsel des Wohnorts, des Arbeitsplatzes oder Veränderungen in der Partnerschaft, wo wir unsere Erfahrungen ein Leben lang machen.

Ohne Moos nix los, aber Geld allein macht auch nicht glücklich.

Die meisten Menschen denken bei Ruhestand zuerst an die Veränderung des Einkommens und weniger an den Verlust von Rolle, Status und Aufgabe.

Fußballlegende Lothar Matthäus bringt es in einem Spiegel-Interview auf die Frage nach dem Ruhestand so auf den Punkt: „Glauben Sie, dass Sie sich nach drei Monaten Urlaub noch wohlfühlen? Ob man nun die Möglichkeit dazu hat oder nicht: morgens aufzuwachen und zu wissen, dass man keine Aufgabe hat, ist nicht befriedigend.“

Diese Veränderungen, die die neue Rolle als „Rentner“ mit sich bringt, können oder besser sollten Unternehmen zum Anlass nehmen, entsprechende Angebote zu entwickeln. Wir sprechen hier von Finanzdienstleistungen, Mobilitätsangeboten, dem großen Thema Wohnen, aber auch von ehrenamtlichem Engagement oder einer Erwerbstätigkeit nach dem Beruf. Das sind alles Bereiche, in denen Unternehmen Angebote machen können, egal ob die Menschen mit 63 oder 73 in Rente gehen.

Auch mit der Rolle des pflegenden Angehörigen ändert sich vieles im Leben, für das dann – oft kurzfristig – Lösungen gesucht werden.

Die Ansprache von Menschen, zum Beispiel als Pflegende oder als Ruheständler, treffen Menschen in Lebensphasen, die mit nachhaltigen Veränderungen einher gehen und in denen sie für Angebote offen sind. Was viele dieser „Rollen“ mit sich bringen ist, dass Menschen zu Anfängern oder Neulingen in einem Thema werden. Wenn wir etwas zum ersten Mal machen, suchen wir Know-how und die notwendigen „Tools“, um die neue Rolle füllen zu können.

Mitdenken reicht nicht!

Wenn Unternehmen mit mir über das „Thema Alter“ sprechen, höre ich immer wieder die Aussage „DIE denken wir mit“….

Aha, wer sind denn „DIE“ und was wird mitgedacht? Ich frage meine Gesprächs-partner dann immer gerne, warum Alter nur mitgedacht wird und nicht „die Alten“ zum Mitmachen eingeladen werden. Und dann ist da ein Moment der Stille: Hallo Altersdiskriminierung.

An dieser Stelle ein kurzer Exkurs zum Thema Altersbild und Altersdiskriminierung.

Ab wann, glauben Sie, gilt man in Deutschland als „alt“?

Mit 61 Jahren… ja, das ist bitter und im europäischen Vergleich sehr früh.

Hinzu kommt: In der Studie „Altersbilder und Altersdiskriminierung“ lehnen 53% der Befragten die Aussage „Alte Menschen tragen zum Fortschritt unserer Gesellschaft entscheidend bei“ ab. Ältere, Menschen ab 61, werden als Blockierer wahrgenommen.

Die Studie kann ich sehr empfehlen. Einfach hier reinlesen.

So ist es nicht überraschend, dass bei Innovation und Produktentwicklung Ältere gleich in zwei Bereichen kaum eingesetzt werden: Im Innovationsprozess als Mitarbeitende und als externe Ressource, als Alltagsexperten für Innovationen.

Das können Unternehmen konkret tun

Altersdiverse Teams machen gerade im Marketing und der Produktentwicklung Sinn. Eine Durchmischung von Lebensphasen und Rollen führt unterschiedliches Wissen sowie Erfahrungshintergründe von Mitarbeitenden zusammen und begünstigt so den wechselseitigen Wissensaustausch. Wissenschaftlich sind diese Vorteile schon seit rund 15 Jahren belegt, aber die Umsetzung scheint noch etwas Zeit zu brauchen. Ein Grund hierfür sind sicher auch die veralteten Altersbilder, siehe oben.

Gleiches gilt beim Thema Co-Creation und User-Innovation. Beides sind etablierte Methoden, bei denen (potenzielle) Kunden bereits zu Beginn des Innovationsprozesses aktiv eingebunden werden. Hierbei werden ihre Erfahrungen über die Herausforderungen sowie Lösungsansätze genutzt, um relevante Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Leider wird das Erfahrungswissen von Menschen in fortgeschrittenen Lebensphasen nur selten berücksichtigt. Doch gerade hier macht es Sinn. Etwas salopp ausgedrückt: Unternehmern müssen mit und nicht über „Oma“ sprechen.

Von 2010 bis 2012 habe ich an einem Forschungsprojekt mitgearbeitet, in dem untersucht wurde, ob und wie man Ältere in solche Innovationsprozesse einbinden kann. Kurz und knapp: Ja, man kann und die Ergebnisse sind sehr gut. Man muss jedoch die Prozesse in Ansprache und Gestaltung anpassen. Vor allem aber muss das Altersbild im Unternehmen hinterfragt werden. Beispiel gefällig?

Slow Runners

Wenn ich gefragt werde, welche Firma ein gutes “Seniorenprodukt“ macht, sage ich immer: Nike! Ja, die Sportmarke. Warum? Weil sie das Thema intelligent angehen. Sie schauen sich nicht das Alter, sondern das Verhalten von Menschen an.

Viele Laufbegeisterte wollen so lange wie möglich ihrem Hobby nachgehen, oder besser gesagt nachlaufen ;). Sie tun dies langsam, manchmal sehr langsam. Über die Jahre werden sie zu „Slow runnern“, sie cruisen mehr als dass sie rennen.

Diese Verhaltensänderung war die Inspiration für den Nike CruzrOne. Dieser kam 2019 auf den Markt, in selbem Jahr in dem Vicki Maguire ihrem Ärger Luft machte und “Serve my interests, not your lazy profiles” schrieb. Zufälle gibt’s.

Der CruzrOne sieht aus wie ein herkömmlicher Nike-Laufschuh, aber mit mehr Komfort und einer Zwischensohle, die sowohl eine hervorragende Dämpfung als auch eine hohe Energierückgabe bietet.

zwei ältere sitzende Männer präsentieren Schuhe
Video zur Entstehungsgeschichte des CruzrOne auf der Nike-Website © Nike

Der Kunde ist KÖNIGsmacher

2018 habe ich den Gründerpreis SENovation-Award ins Leben gerufen.

Er verfolgt zwei Ziele:

  1. Die junge Start-up Szene in der DACH-Region für die Alterung der Gesellschaft und damit auch ihrer potentiellen Kunden zu sensibilisieren.
  2. Gründer auszuzeichnen, die diese Herausforderung mit ihren Geschäftsmodell innovativ angehen.

Bis heute haben sich über 400 Teams aus Deutschland, Österreich und der Schweiz beworben. Das Besondere an diesem Preis ist das Auswahlverfahren.

Ich habe das Halbfinale als „Die Höhle der Senioren“ initiiert. Bevor Teams im Finale vor der Experten-Jury pitchen, präsentieren sie vor einer bunt gemischten Truppe aus Älteren. Diese bewerten die Geschäftsmodelle aus der Perspektive des Anwenders oder als Angehörige eines Anwenders.

Das großartige daran: Wir haben eine Win-Win-Win Situation:

  1. Die Jury weiß, dass die Finalisten den Praxistest bestanden haben.
  2. Die Teams haben sich und ihre Geschäftsidee (teilweise zum ersten Mal) erfolgreich präsentiert und wertvolles Feedback bekommen.
  3. Die Juroren aus dem Halbfinale fühlen sich gefragt und gesehen. Zudem haben sie nicht nur einen Platz am Tisch, sie haben mit ihrer Stimme auch direkten Einfluss auf den Ausgang des Wettbewerbs, Partizipation im besten Sinne.
Gruppe von älteren Menschen an Tischen
Pitchen vor der Expert:innen-Jury in der "Höhle der Senioren" © Frank Leyhausen

That’s not cool

Die Gesellschaft altert und damit auch die Popkultur sowie die Promis.

Viele von ihnen gehen öffentlichkeitswirksam gegen die etablierten und überholten Altersbilder vor, so wie Heidi Klum. In der US-Fernsehshow „Making the Cut“, bei der Designer ihre Mode vorstellen, beschreibt eine Teilnehmerin ihre Zielgruppe als „Frauen zwischen 24 und 42“.

Was hat Heidi Klum zu dieser Alterssegmentierung gesagt? „DAS IST NICHT COOL“ und weiter „Das heißt, ich kann dieses Stück nicht mehr kaufen? … Sie sollten keine zeitliche Begrenzung für irgendetwas festlegen, und ich denke, wir sollten in jedem Alter in der Lage sein, alles zu tragen.“

Seien wir alle ein bisschen wie Heidi und sprechen Missstände offen an!

Über den Autor

Frank Leyhausen berät seit 2000 Unternehmen, Behörden und Non-Profit-Organisationen zu den Chancen und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft.

Die Handlungsfelder sind Innovation und Kommunikation sowie die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Erste Erfahrungen mit den Chancen und Herausforderungen einer alternden Gesellschaft sammelte er in den 1990er Jahren bei der Deutsche Bank Gruppe. Im Jahr 2000 wechselte er in die Beratung. Seitdem hat er eine Vielzahl von Projekten in verschiedenen Branchen verantwortet und war an Forschungsprojekten beteiligt. Sein Hauptaugenmerk liegt auf der GSA-Region und den USA.

Er ist Mitbegründer von AgeForce1, einer Beratungsfirma, die sich auf das Potenzial der Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt konzentriert. Sie unterstützt Arbeitnehmer bei der Ruhestandsplanung und berät Arbeitgeber beim Einsatz älterer Mitarbeiter.

Frank ist Interviewpartner für die Medien im In- und Ausland. Seine Erfahrungen hat er in zahlreiche Bücher eingebracht, wie „Economia da Longevidade“, „From Grey to silver“ und „Von Quotenfrauen und alten weißen Männern“. Das neue Buch „Graues Gold statt altes Eisen“ wird am 21. November 2024 veröffentlicht.

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