Alt ist man, wenn man nicht mehr hinterfragt. Wenn man sich abfindet, wenn man sagt, „das ist halt so…“. Das kann schon für 30-Jährige gelten oder für 70-Jährige. Wenn man nicht mehr neugierig ist. Nicht auf alles, aber auf neue Erfahrungen, neue Ideen, andere Meinungen.
Alt ist, wer nicht mehr neugierig ist
Denn nichts ist einfach so. Alles ist im Fluss. Alt sein heißt, keine neuen Erfahrungen machen zu wollen, weil man denkt, man habe alles schon gesehen. Das mag richtig sein, aber nur in den groben Kategorien. Es geht um die Nuancen des Lebens. Grauwerte. Feinheiten, die das Leben reicher machen.
Neulich meinte ein Bekannter zu mir: „Paris? Ich war schon mal in Paris. Ich kenne die Stadt. Da muss ich nicht noch einmal hinfahren.“ Er war 52 Jahre alt.
Alt sein heißt auch, nicht mehr die eigene Jugend, die eigenen Sehnsüchte damals mit denen der heutigen Jugend in Relation zu setzen. Neuen Entwicklungen ablehnend oder zumindest skeptisch gegenüber zu stehen. Die damaligen Sehnsüchte vergessen zu haben. Oder sie so konserviert zu haben, dass man nur noch in den (vermeintlich) wilden, jungen Jahren lebt. Nur noch Rock‘n‘Roll oder Heavy Metal hört, die langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Nach dem Motto: „Früher war alles besser!“
Mitnichten.
Soundsoviele Jahre alt? Oder soundsoviele Jahre gelebt?
Das Alter ist erst einmal nur die Anzahl der bisher gelebten Jahre. Ob sieben, siebzehn, siebenundzwanzig, siebenundvierzig oder siebenundsiebzig.
Im Deutschen sagen wir, dass wir soundsoviele Jahre alt seien. In vielen anderen, vor allem romanischen Sprachen ist das anders. Dort heißt es, ich habe soundsoviele Jahre. Da kommt das Wort alt nicht vor, sondern nur die Anzahl der Jahre, die man bisher auf der Welt ist, die Zeit, in der man gelebt und Erfahrungen gesammelt hat.
Als ich 12 Jahre alt war, wollte ich unbedingt schnell älter werden. Mit 16 fand ich 21-jährige alt. Mit meinem gleichaltrigen Freund beschlossen wir damals, mit 21 Selbstmord zu begehen, denn dann wäre das Leben ja ohnehin vorbei. (wir haben es nicht gemacht 😉 . Mit 30 dachte ich dann, das wars, die Jugend ist endgültig vorbei. An meinem 34. Geburtstag fühlte ich mein Leben (mit Freundin und ihrem 12-jährigen Sohn in einer gemeinsamen Wohnung) quasi zementiert, so würde es also immer weitergehen, ich war unglücklich. Einer meiner Brüder meinte damals, mit 40 musst du es aber geschafft haben.
Was muss man irgendwann geschafft haben?
Ein Haus, eine Familie, ein geregeltes Einkommen? Geschafft?
Unsinn. Das Leben läuft in zeitweise chaotischen Bahnen. Es geht vielmehr darum, ein mit Sinn erfülltes Leben zu führen. Dazu zählen vor allem Beziehungen.
Anfang 50 hatte ich mir zeitweilig die Haare gefärbt, ich fühlte mich mit meinen grauen Haaren alt. Das war vermutlich meine Midlife Crisis. Ich dachte, es wäre ohnehin bald alles zu Ende. Ich wunderte mich tatsächlich darüber, dass immer noch neue Häuser gebaut und Kinder in die Welt gesetzt wurden. Nicht wegen der Klimakatastrophe, sondern weil ich meine eigene Sicht, mein eigenes Gefühl des nahenden Endes auf die ganze Welt projizierte.
Diese Phase war glücklicherweise sehr schnell vorbei. Denn ich merkte bald, dass da noch so viel mehr kommen konnte! Immerhin liegt heute die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei knapp 80 Jahren. Also könnte ich noch etwa 25 Jahre lang leben!
Man ist nie zu alt!
Der portugiesische Schriftsteller und Nobelpreisträger Jose Saramago hatte erst mit 44 Jahren wieder etwas veröffentlicht, weil er davor meinte „… dass ich nicht Lohnendes zu sagen habe“. Erst 1982 im Alter von 60 Jahren wurde er dann international bekannt. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Er starb 2010 im Alter von 91 Jahren.
In lebhafter Erinnerung ist mir auch das letzte Interview mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt im April 2015 geblieben, einige Monate vor seinem Tod im Alter von 96 Jahren. Wie hellsichtig, klug und intelligent er argumentierte.
Oder das Interview von arte mit einem der größten Architekten Portugals, Álvaro Siza Vieira, mit 90 Jahren immer noch über neue Pläne gebeugt.
Picasso hatte mit über 90 Jahren noch Meisterwerke der Kunst geschaffen.
Bernard Le Bouvier Fontanelle, französischer Philosoph und Schriftsteller schrieb im 18 Jh.: „das glücklichste Alter ist das „von 60 bis 80 Jahren. Da hat man eine Position erreicht; man hat keinen Ehrgeiz mehr, man wünscht sich nichts mehr und genießt, was man gesät hat. Es ist das Alter der eingebrachten Ernte.“ Mit 82 Jahren war er, wie berichtet wurde, immer noch ein erstaunlicher Unterhalter. Er starb knapp 100-jährig im Jahr 1757.
Wann ist man also alt? Oder zu alt für was?
Ageism, Altersdiskriminierung
In letzter Zeit hat der Begriff der Altersdiskriminierung neue Bedeutung erhalten. Zum Beispiel, in dem Ärzt:innen über 75-jährigen Menschen bereits künstliche Hüftgelenke verwehren, da es sich ja nicht mehr lohnen würde. Für eventuell noch über 20 weitere Lebensjahre? Oder auch nur 5 Jahre? Allein nur ein oder zwei Jahre sind eine sehr lange Zeit. Das haben wir durch die Pandemie deutlich zu spüren bekommen (obwohl sie heute beinahe schon wieder vergessen scheint).
In ihrem 2023 erschienenen Buch „The Good Life“ * über Erkenntnisse aus der weltweit längsten Studie über ein erfülltes Leben schreiben die Autoren Robert Waldinger und Marc Schulz: „Trotz der Wahrnehmung, ältere Menschen seien mürrisch und zänkisch, beweisen Studien, dass der Mensch nie glücklicher ist als in den späten Jahren seines Lebens. Wir werden immer besser darin, die Hochs zu genießen und die Tiefs gelassen hinzunehmen.“
(Carstensen 1999, Taking Time Seriously in American Psychologist 37)
Jedes Jahr, jeder Monat, jeder Tag zählt
Denn wir haben jeden Tag Wünsche, Sehnsüchte, Pläne, die uns am Leben erhalten. Und dieselben Gefühle, die wir als Jugendliche hatten. Nach Liebe, netten Worten, Anerkennung und Zärtlichkeit. Daran ändert sich nichts. Vielleicht haben wir uns daran gewöhnt, dass wir das nicht jeden Tag haben können. Aber die Hoffnung bleibt.
Was wird schlechter, je älter man wird? Was nimmt ab?
- Gesundheit, Abnutzungserscheinungen
- körperliche Fähigkeiten
- Subjektiv empfundene Schönheit
- Glatte Haut
- Haare
- Beweglichkeit
- Unsicherheit, Suche nach sich selbst
- Egoismus
Was wird besser, was nimmt zu?
- Geistige Fähigkeiten
- Souveränität
- Toleranz
- Verständnis, Milde, Nachsicht
- Wissen, Erfahrung
- Wissen um den eigenen Wert
- Gelassenheit
- Genuss, Genusserlebnisse, genießen können
Was bleibt gleich?
- Gefühle
Siegbert Mattheis (64 zum Zeitpunkt der Veröffentlichung)
Was ist der Schlüssel zu einem guten Leben? Diese Frage beschäftigt alle Menschen und auch die längste je durchgeführte Glücksstudie weltweit. Die Harvard Study of Adult Development verfolgt das Leben ihrer Teilnehmer:innen seit mehr als 80 Jahren. Das einzigartige und aufschlussreiche Ergebnis dieser Studie findet sich in »The Good Life« wieder. Es handelt von der Macht unserer Sozialkontakte und Beziehungen, ihrem Einfluss auf unsere Gesundheit und Zufriedenheit und wie wir durch sie Geist, Körper und Seele schützen können.
Wer sind wir „Boomer“ eigentlich?
Sind wir Kinder für unsere Eltern verantwortlich?
Studie: Mehrheit der Deutschen offen für alternative Wohnformen
Buchtipp: Freunde machen gesund
Buchtipp: Wer gebraucht wird, lebt länger
Wohn-Story: Leben im Bungalow auf einer Ebene
Neue Wohnformen für Alt & Jung von Tiny House bis Mehrgenerationen-Villa