Warum „Ich bin zu alt dafür“ nur eine Erzählung ist und wie wir unser Denken aktiv ändern können.
In dieser Folge des LIVVING Podcasts sprechen wir mit Christine Erlach. Sie ist Expertin für narrative Organisationsentwicklung und hat zusammen mit Michael Müller das Buch geschrieben „In Aktanz gehen: Wie man hinderliche Geschichten loswird“*.
Ihr Thema ist, wie wir uns von festgefahrenen Überzeugungen lösen und neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können.
Besonders ältere Menschen tragen oft Glaubenssätze in sich, die sie unbewusst einschränken: „Ich bin zu alt für Technik“, „Meine Erfahrung zählt nicht mehr“ oder „Junge Leute ticken heute einfach anders“.
Doch wie lassen sich diese Muster durchbrechen? Und wie kann Storytelling dabei helfen, Wissen zu bewahren und weiterzugeben? Ein inspirierendes Gespräch über den Einfluss von Erzählungen auf unser Leben – und wie wir sie aktiv neu gestalten können.

Die wichtigsten 5 Fakten aus dem Interview:
- Alte Denkmuster durchbrechen:
„Ich bin zu alt dafür“ – oft stecken wir in hinderlichen Narrativen fest, die uns blockieren. - Warum Erzählungen so mächtig sind:
Unsere eigenen Geschichten prägen unser Selbstbild und beeinflussen unsere Entscheidungen. - Wie sich Perspektiven verändern lassen:
Reflexion und Story Listening helfen, neue Sichtweisen zu entdecken. - Wissen weitergeben, bevor es verloren geht:
Ältere Mitarbeitende sind wertvolle Wissensträger – doch oft wird ihr Erfahrungsschatz unterschätzt. - KI und Storytelling für den Wissenstransfer:
Neue Technologien könnten helfen, Erfahrungswissen für die Zukunft zu sichern.
Warum prägen uns unsere eigenen Erzählungen?
„Man merkt oft gar nicht, was für Glaubenssätze man hat“, erklärt Christine Erlach im Podcast.
Sie beschreibt, wie tief verwurzelte Überzeugungen unser Leben beeinflussen – oft ohne, dass wir es merken. Besonders im Alter spielen diese eine große Rolle: „Viele glauben, dass sie zu alt sind, um noch neue Dinge zu lernen. Aber solche Geschichten sind selbstgemacht – und sie halten uns davon ab, unser volles Potenzial zu entfalten.“
Ein typischer Satz, den sie oft hört: „Ich kann das mit der Technik nicht.“
Doch diese Überzeugung ist nicht in Stein gemeißelt. „Wenn wir uns erlauben, den Schieberegler nur ein kleines Stück zu bewegen, öffnet sich unser Handlungsspielraum“, sagt sie. Statt „Ich kann das nicht“ könnte man sich fragen: „Was, wenn ich mir einfach Zeit nehme, es zu lernen?“
Welche hinderlichen Glaubenssätze haben ältere Menschen oft?
Christine Erlach erklärt, dass ältere Menschen oft mit Glaubenssätzen zu kämpfen haben, die sie selbst oder die Gesellschaft ihnen einprägt. „Ich bin zu alt“ oder „Mein Wissen zählt nicht mehr“ sind typische Überzeugungen, die Menschen in der zweiten Lebenshälfte blockieren. Sie beschreibt, wie wir in Erzählungen gefangen sind, die wir uns selbst oder die uns andere über unser Alter erzählen:
„Manche Glaubenssätze werden dysfunktional, weil sie beginnen, mich einzuschränken. Gerade in der Übergangsphase in den Ruhestand gibt es viele Narrative, die sich schwer anfühlen, die uns unbeweglich machen.“
Doch Veränderung ist möglich. „Wenn wir anfangen, unsere eigenen Geschichten zu hinterfragen, gewinnen wir Leichtigkeit zurück“, so Erlach.
Wie können Unternehmen das Wissen älterer Mitarbeitender besser nutzen?
Viele Unternehmen unterschätzen den immensen Erfahrungsschatz ihrer älteren Mitarbeitenden. Doch oft bleiben wichtige Erkenntnisse ungenutzt, weil es keine Strukturen gibt, um dieses Wissen zu sichern. Christine Erlach beschreibt ein Beispiel aus ihrer Beratung:
„Ich werde oft gerufen, wenn jemand in Rente geht, der sehr viel Erfahrungswissen hat. Dann heißt es: ‚Können Sie uns helfen, das Wissen noch schnell auszuspeichern?‘ Aber so funktioniert das nicht. Wissen ist kein Datensatz, den man einfach abspeichern kann. Es muss erzählt und weitergegeben werden.“
Ihre Lösung: Story Listening. Anstatt Wissen in Form von Notizen oder Handbüchern festzuhalten, hilft es, ältere Mitarbeitende ihre Erfahrungen in Geschichten erzählen zu lassen. So entstehen wertvolle Erzählräume, in denen Wissen nachhaltig gesichert wird.
Wie kann künstliche Intelligenz helfen, Erfahrungsschätze zu bewahren?
Christine Erlach sieht in künstlicher Intelligenz eine spannende Möglichkeit, Wissen für die Zukunft zu sichern:
„Unsere Vision ist es, dass das Wissen älterer Menschen nicht verloren geht. Wir experimentieren mit KI-gestützten Wissensavataren, die das gesammelte Wissen so speichern, dass es abrufbar bleibt. Noch sind wir nicht am Ziel, aber in Zukunft könnte so etwas realisierbar sein.“
Solche digitalen Wissensspeicher könnten eine Revolution für Unternehmen bedeuten: Statt dass wertvolle Erfahrungen mit dem Ruhestand eines Mitarbeitenden verloren gehen, könnten sie langfristig für die nächste Generation erhalten bleiben.
Warum Sie dieses Podcast-Interview hören sollten?
Weil es dazu inspiriert, alte Muster zu durchbrechen und das Leben aktiv nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten! Es lohnt sich, die eigenen Erzählungen zu hinterfragen und mutig neue Wege zu beschreiten.
Denn: Unsere Geschichten bestimmen unser Leben – aber wir können sie jederzeit neu schreiben.
Noch mehr Infos gibt es hier:
LinkedIn Profil Christine Erlach
Webseite Narratives Management
Zum Buch „In Aktanz gehen: Wie man hinderliche Geschichten loswird“ * bei amazon
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Interview mit Christine Erlach: Wie negative Glaubenssätze unser Leben im Alter prägen
Claudia Mattheis:
Herzlich willkommen in meinem LIVVING Podcast Studio, liebe Christine Erlach.
Christine Erlach:
Hallo.
Claudia Mattheis:
Warum ich dich eingeladen habe? Weil du als Expertin für narrative Organisationsentwicklung und Mitautorin des Buches „In Aktanz gehen“ zeigst, wie wir uns von festgefahrenen Überzeugungen lösen und neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können. Mit deinem Unternehmen Narrata Consult begleitest du seit über 20 Jahren Unternehmen, Führungskräfte und Privatpersonen dabei, durch Storytelling, Zuhören und Reflexion Veränderungen zu ermöglichen. Heute möchte ich mit dir darüber sprechen, wie wir unsere eigene Lebensgeschichte aktiv gestalten können – gerade auch in der zweiten Lebenshälfte. Viel Stoff für ein spannendes Gespräch, liebe Christine.
Christine Erlach:
Hallo Claudia, ich bin sehr gespannt.
Claudia Mattheis:
Starten wir doch ganz locker. Christine, du bist Psychologin und Expertin für Storytelling in Unternehmen und im persönlichen Leben. Wie bist du zu diesem Thema gekommen?
Christine Erlach:
Das fing tatsächlich schon sehr früh an, bereits an der Uni. Ich habe in München studiert und nach dem Studium als wissenschaftliche Mitarbeiterin in München angefangen. Wir hatten dort eine Forschungsgruppe, die sich auf Expertinnenwissen spezialisiert hat. Wir haben untersucht, was das überhaupt ist, wie sich Erfahrungswissen von anderen Wissensarten unterscheidet und wie man an dieses verborgene Wissen herankommt. Dabei sind wir auf Studien und Methoden aus den USA gestoßen, die mit Geschichten arbeiten – also mit Erzählräumen und Storytelling. So entstand eine Publikation nach der anderen rund um das Thema, wie man unsichtbares Wissen sichtbar machen kann. Eines Tages rief dann ein Unternehmen an und fragte, ob wir das nicht auch als Beratungsauftrag machen könnten. Und genau zu dieser Zeit stand ich vor der Entscheidung, entweder ein neues Forschungsprojekt an der Uni zu übernehmen oder etwas anderes zu machen. Ich habe mich für die Selbstständigkeit entschieden und mich ganz dem Arbeiten mit Geschichten und narrativen Methoden verschrieben, um unsichtbares Wissen sichtbar zu machen.
Claudia Mattheis:
Klingt spannend! Und du hast daraus dann auch ein Buch als Mitautorin geschrieben – „In Aktanz gehen“. Es geht darum, alte Denkmuster zu hinterfragen und loszulassen. Ich muss zugeben, den Begriff Aktanz hatte ich vorher noch nie gehört. Was bedeutet der?
Christine Erlach:
Das ist kein Wunder, dass du den Begriff nicht kennst. Wir haben ihn nicht erfunden, sondern eher gefunden. Es gibt ihn irgendwo in einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung, aber eigentlich haben wir ihn neu entdeckt, um verschiedene Ideenräume hineinzubringen – wie Resonanz, Tanz, Akzeptanz, aber auch die Aktanten, also die handelnden Kräfte in Geschichten. Das können der Helfer, der Gegenspieler oder die Protagonistin sein – sie alle nennt man Aktanten. All diese Begriffswelten und Assoziationen wollten wir in einen Begriff bündeln, der eine Haltung oder Praxis ausdrückt, mit der man mehr Leichtigkeit erreichen und Ballast loswerden kann, wie wir ihn oft in der Unternehmenswelt wahrnehmen. Das war unser Ansatz für das Buch.
Claudia Mattheis:
Ihr richtet euch ja nicht nur an Unternehmen, sondern auch an Privatpersonen, die hinderliche Geschichten mit sich herumtragen. Besonders Menschen 60 plus stehen oft vor großen Veränderungen, etwa dem Übergang in den Ruhestand. Wie können eure Methoden aus dem Buch helfen, solche Übergänge aktiv zu gestalten?
Christine Erlach:
Ja, das Buch ist gar nicht nur für Unternehmen geschrieben, sondern auch für Einzelpersonen, Teams oder sogar für die Gesellschaft insgesamt. Es geht immer um eine Veränderung der Haltung oder der Perspektive – auf die eigenen Glaubenssätze, auf die eigenen Geschichten. Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, was uns als Einzelne, als Team, als Unternehmen oder als Gesellschaft prägt. Dabei sind wir darauf gestoßen, dass wir immer in irgendwelche Geschichten verstrickt sind, auf allen Ebenen. Beim Einzelnen sind es zum Beispiel Glaubenssätze wie „Ich kann das nicht“ oder „Dafür bin ich nicht gut genug“ oder „Das habe ich noch nie gemacht, das werde ich sicher nicht können“.
Claudia Mattheis:
Oder: „Ich bin zu alt.“
Christine Erlach:
Oder: „Ich bin zu alt“, genau. Das ist ja auch eine typische Haltung in der Zielgruppe 60 plus – „Das kann ich nicht mehr, dafür bin ich schon zu alt.“ Das sind Glaubenssätze, die wir uns selbst erzählen, die aber auch von der Gesellschaft und unserer Kultur geprägt werden. Da herauszukommen ist schwierig, denn oft merkt man gar nicht, welche Glaubenssätze man überhaupt hat. Das ist das erste Thema. Gerade bei Menschen 60 plus ist das sehr präsent.
Christine Erlach:
Ich bin ja selbst schon 50 plus und kann daher auch im „Wir“ sprechen. Wir sind in einer Generation aufgewachsen, in der bestimmte Dinge als möglich galten und andere eben nicht. An diese Geschichten glauben wir, das meine ich mit Glaubenssätzen. Es ist in Ordnung, so eine Art Gerüst zu haben, um sich die Welt zu erklären und Orientierung zu bekommen. Doch solche Glaubenssätze werden oft dysfunktional, weil sie uns einschränken oder nicht mehr zu unserer Lebenssituation passen. Gerade beim Übergang in die Rente gibt es viele Glaubenssätze, die dann zu sogenannten Störnarrativen werden – sie fühlen sich schwer an, engen uns ein und machen uns unbeweglich. Die Aufgabe ist es, zu erkennen: Was sind das überhaupt für Glaubenssätze? Welche Narrative halte ich fest, welche werden mir erzählt oder erzähle ich mir selbst? Und wie kann ich sie aufweichen oder loslassen? Das ist natürlich nicht immer einfach.
Christine Erlach:
Im Untertitel unseres Buches steht, wie man hinderliche Geschichten „lesen, los wird“. Ich halte es für schwierig, solche Narrative komplett loszuwerden, aber zumindest kann man lernen, spielerischer damit umzugehen und mehr Leichtigkeit zu gewinnen, sich selbst auch mal neu zu erzählen und Dinge zu tun, die man sonst vielleicht nicht tun würde – auch im Alter.
Claudia Mattheis:
Ihr beschreibt in eurem Buch hinderliche Denkmuster, die uns unbewusst steuern – diese Glaubenssätze. Welche typischen Überzeugungen halten Menschen davon ab, neue Wege zu gehen? Ist es nur „Ich kann das nicht“, „Ich bin zu doof“ oder wird es auch komplexer?
Christine Erlach:
Es ist tatsächlich sehr individuell. Im Coaching habe ich schon viele verschiedene Störnarrative gemeinsam mit den Betroffenen entdeckt. Oft sind es klassische Minderwertigkeitsnarrative, aber es gibt auch von einer höheren Ebene beeinflusste Narrative. Wir leben ja in einer Leistungsgesellschaft, in der wir danach gemessen werden, wie viel wir leisten und wie wir performen. Das ist ein Glaubenssatz, ein Wert, in den wir hinein altern – und irgendwann merken wir, dass wir da nicht mehr mithalten können. Anstatt anzuerkennen, dass wir jetzt vielleicht weniger Kraft für die Arbeit im alten Tempo haben, aber dafür viel Erfahrung und Wissen mitbringen und als Mentor oder Mentorin helfen können, schaffen wir diesen Perspektivwechsel nicht, weil wir unbewusst an diesem Leistungsnarrativ festhalten. Nur Schnelligkeit, Effizienz und hohe Leistung zählen. Das ist ein Beispiel für ein Störnarrativ, das uns einschränkt, ohne dass es um Minderwertigkeitsgefühle geht – eher um gesellschaftliche Werte.
Claudia Mattheis:
Also ist der erste Schritt immer die Erkenntnis. Ihr beschreibt ja im Buch, dass es viele weitere Schritte gibt. Kannst du mal ein Beispiel machen? Sagen wir, ich bin Ende 50 und denke: „Ich bin zu alt, ich kann das mit der ganzen Technik nicht mehr.“
Christine Erlach:
Da würde ich mich manchmal sogar selbst schwer tun, dich zu begleiten, weil ich denselben Glaubenssatz habe. Aber nehmen wir an, wir erkennen diesen Glaubenssatz – das ist schon ein wichtiger Schritt. Wenn du sagst: „Ich möchte das ändern, ich möchte aus dieser Überzeugung herauskommen“, ist schon viel passiert. Dieser erste Schritt ist gar nicht so leicht, denn es braucht oft erst eine gewisse Unzufriedenheit, bevor man merkt, wie sehr einen bestimmte Glaubenssätze belasten. Man spürt Schwere, Unbeweglichkeit, Ballast. Dann lohnt es sich, gemeinsam im Dialog zu erforschen: Welche Glaubenssätze stecken dahinter? Wir nennen das Story Listening – zuhören, welche Erfahrungen die Person gemacht hat, was sie als Ballast empfindet, und gemeinsam reflektieren. Im Erzählen merkt man dann oft, an welchen Stellen die Glaubenssätze wirken – zum Beispiel bei Technikthemen, wenn man sich schwer tut. Wir machen da keine Analyse, sondern hören einfach zu und reflektieren gemeinsam.
Christine Erlach:
Im Gespräch entdeckt man dann, welche Glaubenssätze einen hemmen. Danach kann man viel tun, um diese Schwere loszuwerden – etwa Experimente ausprobieren, wie wir sie im Buch beschreiben. Ein Beispiel ist der „Schieberegler“: eine Denkübung, bei der man sich selbst beobachtet, wie man Dinge bewertet – ist etwas gut oder schlecht, kann ich mit Technik umgehen oder gar nicht? Die Idee ist, den inneren Schieberegler ein kleines Stück in Richtung „Ich kann das vielleicht doch“ zu bewegen. Wie verändert sich dadurch mein Handlungsspielraum? Wie gehe ich anders an die Technik heran, wenn ich meinen Schieberegler in Richtung Mitte verschiebe? Solche Experimente helfen dabei, sich von hinderlichen Glaubenssätzen zu lösen und neue Handlungen auszuprobieren.
Claudia Mattheis:
Das klingt sehr individuell. Jeder trägt andere Glaubenssätze mit sich herum und leidet unterschiedlich darunter. Du arbeitest aber auch für Unternehmen und Organisationen – da gibt es ja auch gemeinsame Glaubenssätze und Narrative. Wie gehst du damit um und was wünschen sich die Unternehmen von dir?
Christine Erlach:
Das Prinzip ist dasselbe. Wir hören zu und sammeln viele Erfahrungen der Mitarbeitenden in Gesprächssituationen, in denen wir kaum Fragen stellen, sondern einfach erzählen lassen, was sie erlebt haben. Dann schauen wir, welche Muster sich über mehrere Erzählungen hinweg abzeichnen. Ein Beispiel: In einem Unternehmen haben sowohl langjährige als auch später eingestellte Mitarbeitende von einer früheren, sehr starken Führungskraft gesprochen. Alle anderen Chefs danach empfanden sie als weniger klar. Diese Aussagen kamen bei 15 Personen, auch bei denen, die viel später eingestellt wurden. Das allein ist noch kein Glaubenssatz, aber in Verbindung mit einer hohen Unzufriedenheit mit der aktuellen Führung wird es spannend. Die alte Führungskraft ist seit 2011 in Rente, aber ihr Einfluss wirkt noch nach. In Workshops spiegeln wir solche Ergebnisse zurück und fragen gemeinsam, was helfen könnte, die Unzufriedenheit zu lösen. Wir bieten einen Resonanzraum, in dem die Betroffenen eigene Ideen entwickeln, um ihre Situation zu verändern – zum Beispiel durch Experimente wie den „Schieberegler“ oder den „Nebelfänger“, bei dem Ideen „aus der Luft gegriffen“ werden, etwa durch Inspiration aus der Natur.
Claudia Mattheis:
Das war ein anschauliches Beispiel aus der Praxis. Es zeigt, wie Glaubenssätze aus der Vergangenheit die Zukunft blockieren können – nach dem Motto „Früher war alles besser“.
Christine Erlach:
Ja, absolut.
Claudia Mattheis:
Manchmal überhöht man dann das Vergangene oder dramatisiert negative Glaubenssätze sogar noch. Kommen wir zum Thema ältere Mitarbeitende und Führungskräfte: In Unternehmen wird ja oft diskutiert, wie man Ältere besser einbinden kann. Können eure Methoden dabei helfen? Spielen da Glaubenssätze auf beiden Seiten eine Rolle?
Christine Erlach:
Ganz bestimmt. Ich werde oft gerufen, wenn erfahrene Mitarbeitende kurz vor dem Ruhestand stehen und deren Wissen erhalten werden soll. Daher erlebe ich meistens Situationen, in denen die Älteren sehr geschätzt und integriert sind. Aber es gibt natürlich dennoch Glaubenssätze auf beiden Seiten. Die Jüngeren sagen oft: „Die Älteren sind zu langsam, zu kompliziert“ – Erwartungen aus dem Leistungsnarrativ eben. Die Älteren wiederum haben Vorurteile gegenüber den Jungen, etwa dass sie nicht mehr lesen wollen oder sich nichts sagen lassen. In beide Richtungen gibt es viele Vorurteile und Überzeugungen, die als fixe Wahrheiten gelten. Die Aufgabe ist es, Perspektivenwechsel einzuladen – etwa durch Erzählformate und Storytelling. Wenn alle ihre Erfahrungen teilen, entsteht mehr Verständnis als in Diskussionen über Meinungen und Bewertungen.
Claudia Mattheis:
Noch einmal zu den Begriffen: Wie du es verwendest, sind Glaubenssätze, Klischees und Vorurteile unterschiedlich, aber sie sind immer hinderliche Erzählungen, die blockieren.
Christine Erlach:
Genau, das sind hinderliche Erzählungen über mich selbst, über andere oder die Gesellschaft – Dinge, die ich für wahr und unhinterfragt halte. Erst wenn ich merke, dass andere andere Glaubenssätze haben, kann ich mich davon entfernen. Das meinen wir mit Aktanz.
Claudia Mattheis:
Du wirst ja oft hinzugezogen, wenn ältere Mitarbeitende ihr Wissen an die nächste Generation weitergeben sollen. Wie kann Storytelling helfen, dieses Erfahrungswissen wertvoll und nachhaltig verfügbar zu machen?
Christine Erlach:
Das ist eine große Hilfe. Experten und Expertinnen sind es oft nicht gewohnt, dass ihnen wirklich zugehört wird. Im Storytelling-Wissenstransfer gibt es klare Rollen: Wissensgebende, Wissensnehmende und die Moderation – das bin ich. Der Wissensgebende erhält viel Zeit und Raum, seine Erfahrungen in freien Erzählformaten zu teilen. Dabei entstehen durch das Erzählen Assoziationen und Erinnerungen, die in normalen Interviews gar nicht zur Sprache kämen. Wir nehmen die Gespräche auf, transkribieren sie und stellen sie dem Wissensnehmenden zur Verfügung, sodass sie bewahrt und nutzbar gemacht werden.
Claudia Mattheis:
Ihr schreibt im Buch, dass eigentlich kein Wissen verloren geht, sondern alles im Langzeitgedächtnis gespeichert ist. Man muss nur den richtigen Schlüssel finden.
Christine Erlach:
Genau.
Claudia Mattheis:
Man kann es nur nicht aktiv abrufen und die wenigsten können dreißig Jahre Berufserfahrung einfach so erzählen. Aber über das Erzählen kommen diese Schätze wieder ans Licht.
Christine Erlach:
Genau, die meisten können das nicht einfach so.
Claudia Mattheis:
Und praktisch: Ihr führt diese moderierten Interviews, nehmt sie auf und was passiert dann damit?
Christine Erlach:
Es ist gerade eine spannende Zeit, weil sich vieles ändert. Bisher haben wir das Material ausgewertet und mit sozialwissenschaftlichen Methoden die wichtigsten Passagen zu den vorher definierten Themen extrahiert. Heute geht der Trend dahin, das gesamte Wissen in eine künstliche Intelligenz zu geben, die als Dialogpartner für den Wissensnehmenden dient. Noch ist das Zukunftsmusik, aber es wird kommen. Die Vision ist, dass man so die relevanten Passagen aus den Gesprächen jederzeit abrufen kann.
Claudia Mattheis:
Das heißt, ihr kreiert quasi Wissens-Avatare oder Klone der älteren Mitarbeitenden, damit ihr Lebenswissen auch nach deren Ausscheiden erhalten bleibt.
Christine Erlach:
Das ist zumindest die Vision – auch wenn der Weg dahin noch weit ist.
Claudia Mattheis:
Ich kann mir vorstellen, dass es für die Wissensgebenden eine schöne Wertschätzung ist, das eigene Lebenswissen so reflektiert weiterzugeben. Es gibt ja eine riesige Welle von Babyboomern, die bald in Rente gehen. Die Nachfrage müsste also riesig sein, oder?
Christine Erlach:
Die Nachfrage ist tatsächlich groß, aber es gibt auch andere Anbieter und wir haben uns in der Community teilweise zusammengetan, um den besten Weg für den Wissenstransfer zu finden. Viele Führungskräfte gehen an das Thema noch mit der Metapher „ausspeichern“ heran, so als könnte man Wissen auf Knopfdruck auslesen. Das ist natürlich unmöglich. Aber wenn ein wertschätzender Gesprächsraum entsteht, gehen die meisten gerne mit – gerade am Ende ihrer Laufbahn. Das Bewusstsein für Wissensmanagement wächst zwar, aber oft werden andere Dinge als dringlicher angesehen. Ich glaube aber, das wird sich ändern, wenn die Wissenslücken spürbar werden. Wir stehen hier an einer Zeitenwende.
Claudia Mattheis:
Jetzt meine Abschlussfrage: Wie stellst du sicher, dass dein eigenes Lebenswissen nicht verloren geht? Nimmst du schon Festplatten voll?
Christine Erlach:
Eine schöne Frage. Ich habe mehrere Bücher geschrieben – das ist sicher eine Möglichkeit, Wissen weiterzugeben. Außerdem habe ich zwei Söhne, denen ich hoffentlich auch ein Stück Lebenshaltung mitgeben kann. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, mit einem eigenen Avatar zu sprechen. Ich bin da noch ambivalent, aber ich glaube, es wird viele Möglichkeiten geben, die wir uns heute noch nicht vorstellen können. Doch wirkliches Zuhören ist etwas sehr Menschliches – das wird eine große Herausforderung für die KI.
Claudia Mattheis:
Und jetzt wirklich die allerletzte Frage, meine Lieblingsfrage: Wie willst du in Zukunft leben und wohnen?
Christine Erlach:
Ich möchte mich verkleinern und in einem Tiny House leben. Noch wohnen meine Söhne zu Hause, aber sobald sie ausgezogen sind, möchte ich deutlich kleiner wohnen. Ich habe ein Pferd, und ich suche schon jetzt nach Möglichkeiten, mit meinem Pferd und meinem Mann zusammenzuziehen – in dieser Reihenfolge, bitte beachten! Aber ja, am liebsten in einer Gegend, wo das möglich ist: ein Pferd, nicht zu viel Ballast und mein Mann.
Claudia Mattheis:
Christine, das war ein wunderbares Interview. Vielen Dank dafür.
Christine Erlach:
Danke auch.
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