Von Seniorenwohnungen bis Mehrgenerationenhäuser – wie Architektur verbindet. Über architektonische Herausforderungen und ästhetische Lösungen für das Wohnen im Alter.
Sebastian Brüning ist Mitglied der Geschäftsleitung bei URBANSKY Architekten in Berlin und bringt als Architekt und Sachverständiger für Barrierefreiheit eine besondere Perspektive in unseren LIVVING-Podcast.
Mit seinem reichen Erfahrungsschatz weiß er genau, wie Gebäude, Außenräume und städtische Umgebungen gestaltet werden müssen, damit sie wirklich allen Menschen offen stehen.
Seine große Leidenschaft gilt der Sozialarchitektur – von Pflegeheimen in Deutschland und der Schweiz bis hin zu Kitas, Schulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen.
Die wichtigsten 3 Fakten aus dem Interview:
- Barrierefreiheit umfasst weit mehr als nur Rampen und breite Türen:
Sebastian betont, dass Barrierefreiheit auch Akustik, visuelle Leitlinien und die Bedürfnisse von Menschen mit motorischen, kognitiven oder sensorischen Einschränkungen berücksichtigen muss. „Es geht darum, eine Umgebung zu schaffen, die klar wahrnehmbar und leicht zu fassen ist“, erklärt er. - Die Planung von Senior Living Projekten erfordert eine gute Infrastruktur:
Bei der Wahl des Standorts ist es entscheidend, dass Theatern, Museen und Apotheken in der Nähe sind, damit Senioren weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. „Es ist wichtig, dass diese Projekte in gut vernetzte Stadtteile integriert werden, wo die Bewohner noch selbstständig aktiv bleiben können“, sagt Sebastian. - Barrierefreiheit muss von Anfang an bedacht werden:
Im privaten Wohnungsbau, aber auch in großen Projekten wie Mehrgenerationenhäusern, ist es wichtig, schon in der Planungsphase an spätere Anpassungen zu denken, um aufwändige Umbauten zu vermeiden. „Wenn man von Anfang an auf Barrierefreiheit achtet, schafft man flexible Räume, die später nicht umgebaut werden müssen“, so Sebastian Empfehlung.
Die Berufung zur Sozialarchitektur
Sebastians Weg in die Sozialarchitektur begann vor etwa 25 Jahren in einem Berliner Architekturbüro mit sozialem Schwerpunkt. Dort sammelte er als Student erste Erfahrungen mit Pflegeheimen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Diese Zeit prägte nicht nur sein technisches Können, sondern vor allem sein tiefes Verständnis für die Menschen, für die er baut. „Es geht nicht nur darum, schöne Gebäude zu entwerfen, sondern darum, Räume zu schaffen, die das Leben der Menschen positiv beeinflussen.“
Was bedeutet barrierefreie Architektur?
Für Sebastian Brüning geht Barrierefreiheit weit über Rampen und breite Türen hinaus. Es geht um ein ganzheitliches Konzept, das alle Aspekte des Lebens berücksichtigt – von der Gestaltung von Wegen und Zugängen bis hin zur Akustik und den visuellen Elementen eines Raums.
„Es ist nicht nur wichtig, barrierefreie Zugänge zu schaffen, sondern auch sicherzustellen, dass der Raum klar und intuitiv erlebbar ist“, erklärt er. Besonders in Städten können gut durchdachte Blindenleitsysteme und barrierefreie Wege echte Teilhabe ermöglichen.
Der aktuelle Stand der Barrierefreiheit in Deutschland
Während Städte wie Potsdam mit gutem Beispiel vorangehen, sieht Sebastian noch viel Potenzial in Deutschland. Gerade Metropolen wie Berlin haben Nachholbedarf. „Es ist schade, dass viele Städte in Deutschland noch hinter den internationalen Standards zurückbleiben, vor allem in Bezug auf die flächendeckende Umsetzung von Barrierefreier Architektur“, sagt er. Länder wie Spanien seien hier teilweise weit voraus.
Planung von Senior Living Projekten
Ein Herzensthema für Sebastian sind Senior Living Projekte und das Service Wohnen. Hier ist es entscheidend, dass nicht nur der physische Raum barrierefrei ist, sondern dass auch die Umgebung stimmt. Sebastian betont: „Für Senioren muss der Standort gut gewählt sein – nahe an kulturellen Angeboten und mit einer guten Anbindung an die Stadt, damit sie weiterhin aktiv am Leben teilnehmen können.“ Die Planung solcher Projekte muss also sowohl funktional als auch sozial ausgerichtet sein.
Architektonische Herausforderungen und ästhetische Lösungen
Die Kunst liegt in der Balance: Wie verbindet man Funktionalität mit ansprechendem Design? Besonders bei hochwertigen Senior Living Projekten geht es darum, Räume zu schaffen, die beide Aspekte vereinen. „Es geht darum, Räume zu gestalten, die sowohl privat als auch gemeinschaftlich genutzt werden können. Begegnungsstätten wie Gemeinschaftsräume und Gärten sind genauso wichtig wie private Rückzugsorte“.
Wie koordiniert man Projekte im Mehrgenerationenwohnen?
Sebastian spricht auch über seine Erfahrungen mit Mehrgenerationenwohnprojekten, die er als besonders komplex empfindet. Hier kommen seine Fähigkeiten zur Moderation und Koordination zum Tragen, da die verschiedenen Bedürfnisse der Bewohner berücksichtigt und integriert werden müssen. „Es ist eine wahnsinnig herausfordernde Aufgabe, bei Mehrgenerationenprojekten alle Ideen und Wünsche unter einen Hut zu bringen. Aber am Ende entstehen dadurch besonders lebendige, inklusive Wohnräume“, sagt er.
Barrierefreie Architektur im privaten Wohnungsbau
Auch im privaten Wohnungsbau ist Barrierefreiheit ein Thema, das von Anfang an berücksichtigt werden sollte. Sebastian Brüning empfiehlt, bereits bei der Planung von Neubauten an breitere Türen, barrierefreie Badezimmer und andere Anpassungen zu denken, die spätere Umbauten überflüssig machen. „Es ist wichtig, schon bei der Planung an die Flexibilität des Raums zu denken, um für unvorhersehbare Lebenssituationen gerüstet zu sein“, erklärt er.
Warum Sie dieses Podcast-Interview hören sollten?
Lassen Sie sich von Sebastian Brünings Expertise und Leidenschaft für soziale Architektur inspirieren! In diesem Gespräch erfahren Sie nicht nur, wie moderne Barrierefreiheit aussieht, sondern auch, wie durchdachte Architektur Menschen zusammenbringen kann. Seine praktischen Einblicke und zukunftsweisenden Ideen zeigen, wie wir Räume schaffen können, die wirklich allen Menschen gerecht werden. Ein Must-hear für alle, die verstehen möchten, wie kluge Architektur unsere Gesellschaft bereichern kann.
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Interview mit Sebastian Brüning:
Der Architekt, der Barrieren überwindet
Claudia Mattheis:
Hallo, herzlich willkommen in meinem LIVVING Podcast Studio, lieber Sebastian Brüning.
Sebastian Brüning:
Hallo, danke für die Einladung.
Claudia Mattheis:
Ja, und warum ich dich eingeladen habe? Weil du als Architekt und Sachverständiger für Barrierefreiheit genau weißt, worauf es bei der Planung von Gebäuden, Außenräumen und im Städtebau ankommt, damit sie wirklich für alle zugänglich sind. Deine besondere Leidenschaft gilt der sogenannten Sozialarchitektur. Du hast zahlreiche Pflegeheime in Deutschland und der Schweiz entwickelt und planst Bauvorhaben für Senioren, Kitas, Schulen und Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Das klingt nach einer sehr herausfordernden, aber auch sehr sinnstiftenden Arbeit. Daher gleich mal meine erste Frage: Warum hast du als Architekt eine Leidenschaft für die Planung von Sozialarchitektur entwickelt?
Sebastian Brüning:
Das ist eigentlich ganz leicht zu beantworten, oder zumindest einfacher, als man denkt. Ich bin vor etwa 25 Jahren dazu gekommen, als Student in einem Büro zu arbeiten – schon hier in Berlin –, das sich ausschließlich mit Sozialthemen befasst hat. Das war das Büro Feddersen Architekten. Herr Feddersen hat einen guten Namen in der Branche und baut Pflegeheime sowie Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Dieser ganze Sozialbereich wird von ihm abgedeckt. Da bin ich also in eine sehr gute Schule gegangen und habe im Endeffekt von der Pike auf gelernt, was es heißt, mit diesen Menschen zusammenzuarbeiten, für sie zu planen und zu schaffen. Nicht nur einfach schöne Gebäude zu entwickeln, die dann vielleicht irgendwelche Preise gewinnen, aber in Wirklichkeit niemandem nützen. Ich habe gemerkt, dass einfach mehr dahinter steckt, als nur schöne Gebäude zu bauen.
Claudia Mattheis:
Ja, aber schön sind sie trotzdem, die Gebäude, die du baust.
Sebastian Brüning:
Sie sind schön. Das bleibt natürlich auch als Architekt mein Anspruch. Und das Tolle ist, dass man beides miteinander verknüpfen kann: Ein schönes Gebäude zu planen, bei dem auch noch ein sinnvoller Nutzen dahintersteckt. Es ist zudem schön, mit den Menschen zusammenzuarbeiten und zu erleben, wie sie sich daran freuen. Am Anfang war es zum Beispiel so, dass es in Pflegeheimen nicht für jeden Bewohner ein eigenes WC gab. Wir haben dann in Brandenburg ein Gebäude so umgebaut, dass jeder Bewohner ein barrierefreies, eigenes Bad bekam. Bei der Einweihung gab es Stimmen von Bewohnern, die gesagt haben, wie sehr sie diesen Mehrwert schätzen und es eigenständig nutzen können.
Claudia Mattheis:
Was konkret bedeutet Barrierefreiheit? Das ist ja mehr, als dass jeder eine eigene Toilette hat. Was heißt Barrierefreiheit in Gebäuden, im Außenraum und im Städtebau?
Sebastian Brüning:
Barrierefreiheit ist nicht nur eine Rampe und breite Türen. Natürlich ist schon viel erreicht, wenn man eine Umgebung schafft, in der es wenig Schwellen und Stufen gibt, sodass auch Menschen mit motorischen Einschränkungen unterwegs sein können. Das sieht man immer mehr – Unterflurbusse, barrierefreie Bahnsteige, Bürgersteige. All das wird mittlerweile stärker beachtet, und deshalb sind auch immer mehr Menschen mit Rollstühlen auf der Straße und nehmen am Leben teil. Aber es gehört noch mehr dazu: Es gibt motorische und kognitive Einschränkungen, Sehbehinderungen, taube oder schwerhörige Menschen. Für alle ist es wichtig, einen Raum zu schaffen, der klar wahrnehmbar ist, der leicht erfassbar ist – etwa bei Sehbehinderung oder auch bei der Akustik. Lustigerweise ist es auch für Menschen mit Sehbehinderung wichtig, dass sie nicht zu viele oder laute Störgeräusche erleben. Darauf sollte man beim Planen von Gebäuden und im Städtebau achten.
Claudia Mattheis:
Wie weit sind wir denn in Deutschland mit der Barrierefreiheit im Städtebau?
Sebastian Brüning:
Ich würde sagen, wir sind noch nicht sehr weit. Es gibt zwar viele Städte, die sich das auf die Fahne schreiben und Barrierefreiheit ausbauen wollen. Potsdam ist mir da positiv aufgefallen – dort habe ich am Kreativquartier mitgewirkt und das Barrierefrei-Konzept erstellt. Im Stadtraum wurden barrierefreie Wege und Blindenleitsysteme stark implementiert. Andere Städte, wie Berlin, sind so groß, dass es einfach nicht in dem Umfang umgesetzt wird. In anderen Ländern außerhalb Deutschlands fällt mir auf, dass sie viel weiter sind – dort gibt es Blindenleitsysteme, die schon Jahrzehnte alt sind. Da fragt man sich, warum das dort schon damals umgesetzt wurde, während wir in Deutschland erst seit etwa zehn Jahren wirklich konkret an diesen Themen arbeiten. Es scheitert oft am Finanziellen und an der Klarheit, das konsequent vorzugeben, zu fordern und umzusetzen.
Claudia Mattheis:
Mir ist das auch aufgefallen: Wir waren vor einigen Wochen in Malaga, und diese Stadt ist wirklich sehr barrierearm. Frei ist sie nicht, aber viele Menschen mit Mobilitätseinschränkung – auch viele ältere Menschen mit Rollatoren oder Gehstützen – waren unterwegs. Das war ein signifikanter Unterschied zu Deutschland. Aber noch mal ganz konkret zu deiner Arbeit mit Senior LIVVING Projekten und Seniorenwohnanlagen: Worauf kommt es dabei besonders an?
Sebastian Brüning:
Am Anfang steht immer der Standort. Es gibt Projekte, die wir geplant haben, die auf der grünen Wiese stehen, weil das Grundstück günstig ist und man dort gut bauen kann. Aber ich habe festgestellt, dass das meist Häuser sind, die nur die reine funktionale Pflege bedienen. Das Senior LIVVING, das jetzt in aller Munde ist, muss mehr können. Die Zielgruppe steht noch voll im Leben, sie wollen eine vernünftige Infrastruktur – ins Theater gehen, ins Museum, selbst einkaufen. Apotheken sollten in der Nähe sein. Es muss ein entsprechendes Umfeld da sein. Die Makrolage ist wichtig – oft ist ein Standort am Stadtrand sinnvoll, wo die Grundstücke noch bezahlbar sind. Im Zentrum funktioniert es häufig nicht, außer man saniert Bestandsbauten.
Claudia Mattheis:
Und wenn ihr solche Projekte plant – Senior LIVVING Projekte mit einem gewissen Hotelcharakter – was sind da die besonderen Herausforderungen? Es soll ästhetisch schön, aber auch praktisch sein, und man soll nicht unbedingt erkennen, dass es vielleicht eine Pflegeabteilung gibt. Wie setzt ihr das um?
Sebastian Brüning:
Es geht um Menschen, die meist von zu Hause wegziehen, aus ihren großen Häusern, in denen sie mit ihren Kindern gelebt haben. Sie schaffen Platz für nachfolgende Familien, sind aber oft überfordert mit dem großen Haus, besonders wenn der Partner verstorben ist. Sie wollen wieder in eine soziale Umgebung, um nicht zu vereinsamen. Das merkt man immer wieder – Menschen blühen auf, wenn sie wieder Teil einer Gemeinschaft sind. Deshalb ist es bei der Planung wichtig, Begegnungsstätten zu schaffen, zum Beispiel einen zentralen Marktplatz oder Gemeinschaftsbereiche. Diese dürfen gern wie eine kleine Hotelrezeption aussehen, sind aber größer und dienen als Treffpunkt, vielleicht mit einer Gemeinschaftsküche oder einem Wohnzimmer mit (Wasserdampf-)Kamin. Entscheidend ist, dass die Menschen ihre eigene Wohnung für die Privatheit haben, aber unkompliziert barrierefrei Gemeinschaft erleben können. Manchmal steht dort ein Flügel und jemand spielt einfach spontan – das hat eine tolle Wirkung.
Claudia Mattheis:
Du beschäftigst dich schon viele Jahre mit dem Thema. Gibt es neue Trends? Haben sich die Ansprüche der Bewohner oder Betreiber verändert?
Sebastian Brüning:
Man erkennt, dass die Bewohner jünger werden. Früher hat man vor allem Demenzhäuser, Pflegeheime und betreutes Wohnen geplant, wo Pflege im Hintergrund immer präsent ist. Inzwischen wollen viele Häuser genau das gar nicht mehr sichtbar machen. Ein ambulanter Pflegedienst übernimmt, ist aber nur auf Abruf da. Es geht darum, Sicherheit zu vermitteln – sie muss vor allem empfunden werden. Im Notfall ist sie dann auch wirklich da. Wichtig ist, Hotelcharakter zu schaffen und den Menschen eine gute Zeit zu bieten – es ist ja nicht die letzte Lebensphase, sondern oft eine der besten. Viele ziehen mit 50 plus bis 70 ein, genießen die Zeit und wechseln danach vielleicht in stärkere Pflege oder ein noch stärker betreutes Wohnen.
Claudia Mattheis:
Wichtig ist dann vermutlich auch, dass die Architektur von Anfang an alle Optionen offenhält – dass man also nicht umziehen muss, egal wie sich der Gesundheitszustand entwickelt.
Sebastian Brüning:
Genau. Das A und O ist die Barrierefreiheit im Sinne von Schwellenlosigkeit. Wenn man schon bei der Planung dafür sorgt, dass man zur Not mit dem Rollstuhl überall hinkommt, ist schon viel erreicht. Alles Weitere – zum Beispiel Sehbehinderungen oder Schwerhörigkeit – lässt sich ergänzen, ohne bauliche Veränderungen. Alles, was bauliche Veränderungen erfordert, sollte von Anfang an mitgedacht oder zumindest so eingeplant sein, dass es leicht nachrüstbar ist.
Claudia Mattheis:
Bei den Senior LIVVING Projekten habt ihr meist Residenzbetreiber oder Investoren als Auftraggeber. Ihr plant aber auch Mehrgenerationenwohnprojekte, also für ganz andere Bauherren. Gibt es dabei Besonderheiten oder besondere Herausforderungen?
Sebastian Brüning:
Das ist tatsächlich Teil der Geschichte unseres Büros Urbanski Architekten, das viel mit Baugruppen arbeitet. Ein Mehrgenerationenhaus ist oft ähnlich organisiert wie eine Baugruppe: Verschiedene Menschen schließen sich zusammen, wollen gemeinsam wohnen und einen Wohnort schaffen, an dem sie sich wohlfühlen. Auch dort geht es um Barrierefreiheit – man kann entspannt alt werden oder auch mit einer Behinderung leben, die nicht immer altersbedingt sein muss. Wichtig ist, Treffpunkte zu schaffen, wie einen Garten oder Gemeinschaftsraum. Im städtischen Raum gehen die Menschen meist ihrer eigenen Arbeit nach, treffen sich aber am Wochenende oder abends – das ist schon Mehrgenerationenwohnen. Man hilft sich gegenseitig, zum Beispiel beim Einkaufen. Wir als Architekten schaffen den Rahmen und die Möglichkeiten, den Rest gestalten die Menschen selbst.
Claudia Mattheis:
Wie ist es für dich als Architekt, mit einer Baugruppe oder Mehrgenerationenprojekt-Planern zusammenzuarbeiten? Brauchst du da besondere Moderationsfähigkeiten?
Sebastian Brüning:
Man braucht auf jeden Fall starke Moderations- und Koordinationsfähigkeiten. Man baut ja nicht für einen einzelnen Bauherrn. Bei einer Residenz definiert man ein Gesamtkonzept, was Gestaltung und Materialien betrifft. Bei Baugruppen oder Mehrgenerationenhäusern hat jeder seine eigenen Vorstellungen, die auch umgesetzt werden wollen. Das bieten wir gern an, aber es ist komplex. Man muss zum Beispiel mit dem Fliesenleger klären, warum in einem Projekt 30 verschiedene Fliesentypen verbaut werden. Auch Handwerker müssen da manchmal moderiert werden, wenn in jedem Bad andere Lösungen gewünscht sind.
Claudia Mattheis:
Ist man als Architekt sehr nah an den Menschen?
Sebastian Brüning:
Definitiv.
Claudia Mattheis:
Also sitzt man nicht nur über Skizzen und Plänen, sondern muss auch Menschen mögen?
Sebastian Brüning:
Ja, aber das tun wir.
Claudia Mattheis:
Ihr arbeitet ja auch für private Bauherren.
Sebastian Brüning:
Auch privat, ja.
Claudia Mattheis:
Mehrgenerationenprojekte sind ja meist auch eher private Bauherren. Aber wenn ich jetzt ein Haus oder eine Wohnung neu bauen oder umbauen möchte – worauf sollte ich achten?
Sebastian Brüning:
Beim Neubau würde ich immer empfehlen, Barrierefreiheit mitzudenken. Man altert schneller, als man denkt, und die Kinder sind schneller aus dem Haus, als man glaubt. Dann stehen Veränderungen an – entweder zieht man aus oder man hat von Anfang an mitgeplant, dass das Haus barrierefrei ist. Zum Beispiel sind in Berlin Türen mit 80 cm Breite vorgeschrieben, das würde ich auch empfehlen. Viele Bauherren finden solche Türen zwar zu breit, aber im Zweifel sollte man auch an die Umbaubarkeit denken: Kann man die Badewanne so einbauen, dass darunter schon ein Ablauf für eine bodengleiche Dusche ist? Das spart später Aufwand. Alles, was bauliche Anforderungen betrifft, würde ich direkt mitplanen. Alles andere – etwa neue Farben oder Bodenbeläge – kann man nach 20 Jahren leicht ändern.
Claudia Mattheis:
Ich war neulich in einer Musterwohnung für barrierefreies Wohnen und war ganz begeistert vom Badezimmer. Keine Badewanne, sondern eine ebenerdige Dusche, in die man direkt reinlaufen oder -fahren kann. Und es gab eine gemauerte Sitzbank mit kleinen Fliesen, wie in Marokko. Die könnte man sogar beheizen – und sie ist viel angenehmer als diese typischen Plastikhocker in der Dusche.
Sebastian Brüning:
Diese Plastikhocker finde ich auch unsäglich – sie rutschen immer weg und man fällt womöglich. Auch die Wandklappsitze sind meist zu nah an der Wand. Eine gemauerte Sitzbank mit mindestens 50 cm Tiefe ist eine tolle Idee, das machen wir teilweise auch. Nicht jeder will das, aber es wird umgesetzt. Ich habe das neulich in Gronau bei Lively gesehen – aber das Haus, das du meinst, ist bestimmt das Genossenschaftshaus in der Sredzkistraße in Berlin? Da war ich auch schon. Ein tolles Projekt: Ein komplett barrierefreies Haus innerhalb eines Altbaus, das ist wirklich ungewöhnlich.
Claudia Mattheis:
Genau, die haben sogar einen Aufzug integriert. Jeder musste dafür einen Teil seiner Wohnung opfern, aber das Ergebnis ist spannend: Mitten im Prenzlauer Berg konnten die Mieter das Haus als Genossenschaft aufkaufen und barrierefrei umbauen. Zu sozialverträglichen Konditionen wohnen sie dort dauerhaft – und es gibt sogar ein Informationszentrum für genossenschaftliches Bauen und Barrierefreiheit im Erdgeschoss. Es gibt viele interessante technische Features: höhenverstellbare Waschtische, Oberschränke und Garderobenstangen, ein Farbkonzept, das Menschen mit Seheinschränkung hilft, sich zu orientieren, und Möglichkeiten, sich im Raum festzuhalten. Sehr spannend!
Claudia Mattheis:
Du bist auch Sachverständiger für Barrierefreiheit. Das heißt, du siehst vermutlich viele Fälle, wo etwas schiefgelaufen ist oder Streitpunkte entstanden sind. Wann ruft man eigentlich einen Sachverständigen? Was sind die häufigsten Fehler?
Sebastian Brüning:
Das war jetzt die versteckte Frage, wann man einen Sachverständigen braucht. Ich werde tatsächlich oft schon vor Baubeginn eingesetzt, wenn es zum Beispiel um DGNB-Zertifizierung oder ein Barrierefrei-Konzept geht. Dann geht man durch alle Planungsschritte und legt die barrierefreien Themen fest, stimmt sie mit den Planern ab.
Es gibt aber auch Fälle, in denen ich gefragt werde, ob man bestimmte Abweichungen noch als barrierefrei argumentieren kann. Gefälligkeitsgutachten mache ich natürlich nicht, aber es geht oft um eine Art Gefährdungsbeurteilung: Ist trotz einer Abweichung das Schutzziel noch gewahrt? Zum Beispiel, wenn ein Durchgang nicht 90 cm, sondern nur 88 cm breit ist – solche Sonderfälle bewertet man individuell. Oder im Badezimmer: Die Vorgabe in Berlin ist, 75 cm neben dem WC freizuhalten, aber oft wird dort aus Platzgründen eine Dusche geplant. Dann hat man durch Abdichtung und Schwallwasserschutz immer eine kleine Kante – da geht es um viele Kniffe, um es wirklich barrierefrei hinzubekommen. Da unterstütze ich gern im Feintuning.
Claudia Mattheis:
Du bist also vor allem als Ratgeber gefragt?
Sebastian Brüning:
Ja, tatsächlich.
Claudia Mattheis:
Ich dachte bei „Sachverständiger“ zuerst an jemanden, der nach einem Schaden gerufen wird, wie beim Auto. Ich habe selbst mal gebaut, und da musste auch ein Sachverständiger kommen, weil manches nicht wie geplant gelaufen ist.
Sebastian Brüning:
Das gibt es natürlich auch, aber ich selbst bin bislang noch nicht für echte Problemfälle beauftragt worden.
Claudia Mattheis:
Man kann dich also als privater oder größerer Bauherr konsultieren, wenn man sich unsicher ist, ob alles DIN-konform ist oder wie man etwas verbessern kann?
Sebastian Brüning:
Genau. Oft schauen viele in die DIN und sagen: Ich mache es, wie es dort steht, dann ist alles barrierefrei. Beim privaten Bauen muss man die DIN aber nicht immer einhalten, sondern es geht eher um Individualanpassung: Welche Einschränkungen gibt es, was macht Sinn? 90 cm breite Türen sind nicht immer sinnvoll, wenn sie schwer zu bedienen sind. Es ist immer sehr individuell – wir beraten da gern.
Claudia Mattheis:
Das klingt gut. Und jetzt meine Lieblingsfrage: Wie möchtest du in Zukunft leben und wohnen? Ich denke, ein Architekt hat sich bestimmt schon seine Traumimmobilie geschaffen – oder noch nicht?
Sebastian Brüning:
Wir haben das gerade betrachtet: Dieses Jahr mussten meine Schwiegereltern umziehen, weil sie in einem schönen Haus mit vielen Split Levels und Ebenen lebten, das jetzt mit abnehmender Beweglichkeit nicht mehr bewohnbar war. Da habe ich gemerkt, wie wir in Berlin aktuell wohnen, möchte ich auch weiterhin leben – und kann es auch. Wir wohnen in einer Wohnung mit Aufzug, das Bad ist zwar noch nicht barrierefrei, aber leicht umbaubar. Es gibt einen Supermarkt vor der Tür, eine Lieblingskneipe im Block, ein Kino in der Nähe. Wir haben alles, was wir auch für das Senior Living oder Best Ager Living planen, quasi schon intuitiv umgesetzt, ohne es konkret so geplant zu haben. Das ist gerade perfekt, und wir sind entspannt, dass keine Veränderung notwendig ist. Und Berlin ist ja nun auch keine langweilige Stadt.
Claudia Mattheis:
Ich finde auch, Berlin ist eine wunderbare Stadt, um hier alt zu werden – genau das ist auch mein Plan. Lieber Sebastian, vielen Dank für das tolle Gespräch und die interessanten Einblicke in die Welt eines Architekten und Sachverständigen!
Sebastian Brüning:
Ich danke dir auch – sehr gerne.