Das neue Wohnprojekt in Bad Belzig mit 90 Menschen ist ein Vorbild für Bauen als Genossenschaft. Was ist zu beachten? Was sind Kosten und Risiken?
Warum wir Ellen Uloth und Dr. Kerstin Schulenburg gemeinsam eingeladen haben?
Weil beide mutige Projekte initiiert und mitgestaltet haben, die weit über das übliche Verständnis von „Wohnen“ hinausgehen.
Ellen ist die Gründerin von SINN|MACHT|GEWINN, einer Plattform für Unternehmer/innen, die sich für eine enkeltaugliche Wirtschaft einsetzen. Kerstin ist nicht nur Coachin, sondern auch die Initiatorin von „Leben im Fläming“, einem beeindruckenden Gemeinschaftsprojekt in Bad Belzig. Dort leben beide seit Kurzem mit fast 90 Menschen zusammen – in einer genossenschaftlich organisierten, nachhaltigen und vielfältigen Nachbarschaft. Und darüber reden wir in unserem Interview.
Die wichtigsten Themen auf einen Blick:
- Wie wird ein generationenübergreifendes Wohnprojekt mit rund 90 Menschen Wirklichkeit?
- Was braucht es, um solch ein Gemeinschaftsprojekt erfolgreich umzusetzen?
- Warum sind Planung, Auswahlprozesse und Soziokratie der Schlüssel?
- Welche Bedeutung hat das Leitbild?
- Wie verbindet man Nachhaltigkeit, Vielfalt und Eigenverantwortung miteinander?
- Und wie fühlt es sich an, wirklich angekommen zu sein?
Von der Sehnsucht zur konkreten Vision
„Es war meine große Sehnsucht, genau so zu leben, wie wir jetzt leben“, erzählt Dr. Kerstin Schulenburg. Bereits 2012 begann ihre Reise mit dem Besuch von Gemeinschaften und einem intensiven Studienprojekt. „Ich habe 15 Gemeinschaften besucht und qualitative Interviews geführt. Daraus entstand ein Leitfaden für zwischenmenschliche Prozesse – wie man von eins auf hundert kommt.“
Die Region Bad Belzig wählte sie bewusst: „Ich habe hier gelebt, Freundschaften aufgebaut, Gemeinschaftskurse im ZEGG besucht. Und nach 30 Jahren Berlin wollte ich genau hier etwas Neues gründen.“
Leitbild als gemeinsamer Kompass
Ein zentrales Element des Projekts ist das gemeinsam entwickelte Leitbild. „Starte mit dem Leitbild – die Ausrichtung ist das, was zieht“, sagt Dr. Kerstin Schulenburg. Bereits in der Anfangsphase der Pioniergruppe wurde bewusst auf eine gemeinsame Ausrichtung gesetzt, die Orientierung für alle weiteren Entscheidungen bot. „Diese gemeinsame Ausrichtung wurde von allen mitentwickelt – das war nicht meine Vision, sondern die Vision der Gruppe.“
Auch bei der späteren Aufnahme neuer Mitglieder war das Leitbild ein wichtiges Kriterium: „Deswegen sage ich noch mal: Leitbild. Da kommen dann eigentlich keine Leute, die etwas komplett anderes wollen.“ Entscheidungen wurden im Konsent getroffen – stets mit Blick auf die Frage: „Fördert es das Leitbild oder schädigt es das?“
Vom Konzept bis zum Einzug:
Ein Prozess über viele Jahre
Die Umsetzung des Projekts dauerte mehrere Jahre und folgte einem strategisch klar definierten Plan. „Weihnachten 2020 habe ich die Website freigeschaltet – mit dem Ziel, Menschen mit ähnlichen Sehnsüchten anzusprechen“, so Kerstin. „Schon im Frühjahr 2021 startete dann die Arbeit mit der Pioniergruppe.“ Diese Gruppe – etwa 12 Erwachsene plus Familien – arbeitete intensiv an allen entscheidenden Fragen: Bauplanung, Architektur, Gemeinschaftsbildung und Aufnahmeverfahren. „Einige von uns haben über 20 Stunden pro Woche dafür investiert – über Monate hinweg.“
Parallel liefen Verhandlungen mit Architekturbüros, die Gründung der Genossenschaft, die Entwicklung des Bebauungsplans und die Finanzplanung. „Wir haben die Genossenschaft bewusst so konzipiert, dass niemand Anteile weiterverkaufen kann – das Projekt bleibt der Gemeinschaft erhalten“, erklärt Kerstin. Der Bau begann schließlich im Jahr 2022. Der Einzug der ersten BewohnerInnen erfolgte Ende 2024, im Februar 2025 waren fast alle Wohnungen bezogen.
Wer hier lebt – Vielfalt auf 16.800 Quadratmetern
Im Projekt „Leben im Fläming“ wohnen derzeit rund 90 Menschen – darunter etwa 30 Kinder. Die Wohnungsgrößen und Lebensmodelle sind bunt gemischt, was Teil des Konzepts ist. „Unsere älteste Bewohnerin ist 72, unsere jüngsten sind im Kita-Alter“, so Ellen Uloth.
Schon bei der Zusammensetzung der Pioniergruppe war die Altersmischung ein zentrales Kriterium. „Wenn man nur mit jungen Familien startet, wird es schwer, später ältere Menschen zu gewinnen – und umgekehrt„, erklärt Kerstin Schulenburg. Diese bewusste Vielfalt zeigt sich heute im Alltag: in den gemeinsamen Gärten und in der lebendigen Nachbarschaft, die wie ein kleines Dorf funktioniert.
Entstanden ist auf einem Grundstück von 16.800 qm ein Quartier aus vier modernen Holzhäusern mit 45 Wohnungen sowie zusätzlich drei Gemeinschaftsbauten: eine Küche mit Speiseraum, ein Meditationsraum, ein Co-Working-Haus, ein Werkstattbereich und ein großer Garten. „Unsere Häuser sind in Holzständerbauweise gebaut, die Fassade ist schlicht, aber modern“, beschreibt Ellen Uloth. „Die Wohnungen sind über Veranden erschlossen. Du trittst direkt von der Veranda in deine Wohnung – das fördert Begegnungen.“
Gemeinschaft braucht Struktur – und Entscheidungskraft
Ein zentrales Erfolgsprinzip: die sogenannte Pioniergruppe. „Wir haben nicht in großer Runde diskutiert, sondern mit einer kleinen, strategisch besetzten Gruppe grundlegende Entscheidungen getroffen – von der Architektur über das Leitbild bis hin zur Rechtsform“, erklärt Kerstin Schulenburg. „In dieser Gruppe mussten schon alle Altersgruppen vertreten sein – sonst bildet sich die gewünschte Mischung später nicht mehr.“
Auch finanziell war der Einstieg klar geregelt: „Jeder musste von Anfang an Geld einbringen und Zeit investieren. Mindestens ein Wochenende im Monat und aktive Mitarbeit in einem der Kreise waren Pflicht.“
Ellen Uloth beschreibt den Unterschied zu früheren Erfahrungen mit anderen Bauprojekten: „Wir waren vorher in einer Gruppe, die nach drei Jahren immer noch nichts entschieden hatte. Dann traf ich auf Kerstin – und habe gesagt: Dafür gebe ich sogar meinen Traum vom Haus am See auf.“
Lösungen statt Verzicht: Solidarität, wenn es teuer wird
Als die Baupreise explodierten, fand die Gruppe eine gemeinschaftliche Lösung. „Wir haben einen Solidarfonds gegründet“, erklärt Kerstin. „Wer mehr Eigenkapital hatte, konnte zusätzlich investieren – andere bekamen dadurch eine Mietkostensenkung.“
Ellen erinnert sich: „Normalerweise wird bei Kostensteigerungen zuerst an den Gemeinschaftsflächen gespart. Wir haben gesagt: Genau die brauchen wir – und haben lieber auf eine mobile Trennwand verzichtet.“
Eine Bewegung in die Region hinein
Die Offenheit zur Nachbarschaft ist Teil des Konzepts. „Zur Grundsteinlegung sind viele Menschen aus der Umgebung gekommen. Sie haben uns sogar einen Obstbaum geschenkt“, sagt Kerstin. „Wir wollen kein Ufo in der Region sein, sondern Teil der Gemeinschaft.“
Künftig sollen Sommerfeste, Führungen und weitere Kooperationen folgen.
Ein gemeinsames Ankommen – mit Aussicht
Heute leben alle bis auf zwei Parteien fest im Quartier. „Wir wurden mit Suppe und Tee empfangen, als wir eingezogen sind. Das war so besonders“, sagt Ellen. „Es war klar: Hier ist man wirklich willkommen.“
Kerstin Schulenburg ergänzt: „Wir haben aber auch gelernt, dass der Rückzug die Voraussetzung ist, um in Gemeinschaft leben zu können. Das war ein Lernprozess – gerade nach dem Einzug.“
„Hier will ich nur noch mit den Füßen voran rausgetragen werden“, sagt Ellen lachend. „Aber uns ist auch klar: Wenn wir alle hier alt werden, müssen wir über Pflege nachdenken. Erste Ideen für ein Pflegeprojekt auf dem Nachbargrundstück gibt es bereits.“
Warum Sie dieses Podcast-Interview hören sollten?
Dieses Gespräch bietet seltene und ehrliche Einblicke in die Herausforderungen und Chancen eines echten Gemeinschaftsprojekts. Es zeigt, wie klare Strukturen, offene Kommunikation und gemeinschaftlicher Wille ein visionäres Wohnprojekt möglich machen – inklusive konkreter Tipps für alle, die selbst über alternative Wohnformen nachdenken.
Und vor allem: Es ist ein inspirierendes Beispiel dafür, wie Zukunft gemeinsam gestaltet werden kann.
Noch mehr Infos gibt es hier:
Webseite Projekt Leben im Fäming
Ellen Uloth:
LinkedIn-Profil
Webseite sinnmachtgewinn.de
Dr. Kerstin Schulenburg:
Webseite www.cohousing.de
Webseite www.dialog-im-mittelpunkt.de
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Weitere Informationen 'LIVVING Podcast anhören!
Interview mit Ellen Uloth & Dr. Kerstin Schulenburg:
Zuhause für Generationen als Gemeinschaftsprojekt!
Leben im Fläming: Wohnprojekt mit 90 Menschen ist Vorbild für Bauen als Genossenschaft.