Wie aus einer leer stehenden Büroimmobilie in Berlin ein liebevolles Zuhause für ältere Menschen und ein attraktiver Arbeitsplatz für Pflegekräfte wurde.
Als Chefredakteurin von LIVVING.de beschäftige ich mich intensiv mit neuen Wohnformen für ältere Menschen. Im Rahmen meiner Recherche habe ich einige ganz besondere Senioren-Wohngemeinschaften besucht, die sich in einem umgebauten Bürogebäude an der Bundesallee in Berlin-Wilmersdorf befinden. Dieses Projekt ist ein spannendes Beispiel dafür, wie mit viel Eigeninitiative leerstehende Gewerbeimmobilien sinnvoll genutzt werden können, um Senioren ein Zuhause mit Pflege und Gemeinschaft zu bieten.
Ich wollte herausfinden, was dieses Konzept so besonders macht, und sprach mit Anett Hüssen und Katarzyna Orlik, den Geschäftsführerinnen der Hauskrankenpflege Depner, die dieses Projekt umgesetzt haben.
Schönes Design statt Geruch von Desinfektionsmittel
Der erste Eindruck beim Betreten des Gebäudes ist verblüffend: keine sterile Krankenhausatmosphäre, kein Geruch nach Desinfektionsmittel, kein kaltes Büro-Entree, sondern eine wohnliche Umgebung mit bunten Sesseln, Pflanzen und stilvollen Lampen. Das Ambiente im Eingangsbereich wirkt mehr wie ein Boutique-Hotel statt wie eine Pflegeeinrichtung.
Geschmackvoll eingerichtete Senioren-WG
In den WGs setzt sich dieser Eindruck fort. Hier erinnert nichts an ein steriles Pflegeheim oder an ehemalige Büros. Die Räume sind geschmackvoll gestaltet, mit modernen Möbeln, schönen Tapeten, liebevollen Details wie Vasen und Bildern. Und sogar die Katzen von Bewohnern haben hier ein neues Zuhause gefunden und streifen entspannt durch die Gemeinschaftsräume. Die offene Wohnküche ist jeweils das Herzstück der Senioren-Wohngemeinschaften, dort sitzen Pflegekräfte und Senioren gemeinsam am Tisch, essen, spielen oder unterhalten sich.
Wohlfühlatmosphäre
Die Einzelzimmer sind geräumig und hell mit großen Fensterflächen. Bewohnerinnen und Bewohner können eigene Möbel und Bilder mitbringen, um ihr Zimmer nach ihren Wünschen zu gestalten. „Wir legen großen Wert darauf, dass sich die Menschen hier nicht nur gut betreut, sondern auch wirklich wohl fühlen“, erklärt Katarzyna Orlik.
Berlin als Vorreiter: Senioren-WGs als Alternative zum Pflegeheim
Das Konzept der Senioren-WGs ist in Berlin besonders verbreitet. „Berlin hat etwa 700 bis 800 dieser Wohnformen“, berichtet Anett Hüssen. „Wir selbst betreuen 17 WGs mit rund 170 Bewohnerinnen und Bewohnern.“
Betreuung von Pflegekräften
Das Prinzip: Pflegebedürftige Menschen leben gemeinsam, teilen sich Gemeinschaftsräume und werden rund um die Uhr von Pflegekräften betreut. Anders als in klassischen Pflegeheimen haben die Senioren mehr Freiraum, können ihren Alltag aktiv mitgestalten und sogar bei der Zubereitung der Mahlzeiten helfen.
„Wir haben zum Beispiel eine Bewohnerin, die früher sehr gerne gekocht hat. Jetzt hilft sie immer noch beim Kartoffelschälen oder Tischdecken – weil sie es kann und es ihr Freude macht“, so Katarzyna Orlik. „Menschen brauchen Aufgaben, sie wollen Teil des Alltags sein und nicht nur versorgt werden.“
Anett Hüssen fügt hinzu: „Das Modell der Senioren-WGs bietet den Bewohnerinnen und Bewohnern eine familiäre Atmosphäre. Alle, Bewohner und Pflegekräfte, kennen sich gut. Das ist wirklich ein Vorteil in dieser kleinen Gruppe.“
Vom Büro zur Senioren-WG: Welche baulichen und rechtlichen Hürden gibt es?
Der Umbau eines Bürogebäudes in eine Senioren-WG war jedoch kein leichtes Unterfangen. „Wir haben hier in der Bundesallee die Immobilie von Grund auf neu konzipiert“, erläutert Anett Hüssen. „Die Herausforderungen waren groß – insbesondere bei Wasserleitungen und bodengleichen Duschen. Bürogebäude sind einfach nicht für Wohnzwecke gebaut.“
Unterstützung der Berliner Behörde
Auch die rechtlichen Hürden waren nicht zu unterschätzen: „Man braucht eine Umnutzungsgenehmigung vom Stadtbauamt. Hier hatten wir Glück, dass wir von der Behörde unterstützt wurden“, sagt Anett Hüssen. „Aber es ist definitiv kein Modell, das sich einfach auf jede leer stehende Büroimmobilie übertragen lässt.“ Dennoch haben bereits weitere Vermieter Interesse an ähnlichen Projekten bekundet.
Welche Bürogebäude eignen sich für einen Umbau zu einer Senioren-WG?
Ein weiteres Problem sei, dass Bürogebäude häufig mit kleinen Durchlauferhitzern ausgestattet sind, die für eine Wohngemeinschaft mit zwölf Bewohnern nicht ausreichen. „Es hilft, wenn man das ganze Haus hat und eine zentrale Wasserbereitung einrichten kann“, erklärt sie weiter.
Neben der Wasserversorgung spielen auch Aspekte wie Schallschutz, Rettungswege und die Genehmigung durch die Feuerwehr eine entscheidende Rolle. „Wir haben in den Aufenthaltsräumen zum Teil Klimaanlagen eingebaut und und mussten natürlich auch darauf achten, dass es beim neuen Grundriss für jeden Bewohner ein öffenbares Fenster gibt.“
Dass die Umnutzung von Büroflächen als Blaupause für ganz Berlin dienen kann, sieht Anett Hüssen skeptisch: „Ich suche Lösungen für Menschen, keine stadtplanerischen Konzepte. Die meisten Bürogebäude, die wir uns angesehen haben, hätten sich nicht für einen Umbau geeignet – entweder wegen zu hoher Kosten oder ungünstiger Lage. Aber wir haben bereits neue Anfragen von Immobilienbesitzern, die sehen, dass unser Modell funktioniert.“
Pflege und Immobilienwirtschaft zusammenbringen
Sie betont, dass es entscheidend sei, Pflege und Immobilienwirtschaft zusammenzubringen. „Bürovermieter haben keinen Bezug zu einem Pflegedienst, und ein Pflegedienst hat klassisch keinen Bezug zur Immobilienwirtschaft. Das sind einfach zwei Welten.“ Doch das Interesse wächst, auch weil alternative Wohnformen dringend benötigt werden.
Einblicke in das Leben in einer Senioren-WG
Während meines Besuchs konnte ich einige der Bewohnerinnen und Bewohner kennenlernen. Besonders berührt hat mich die Geschichte einer älteren Dame, die mich in ihr gemütlich eingerichtetes Zimmer bat. „Ich war lange im Krankenhaus“, erzählte sie mir, „aber jetzt geht es mir wieder besser. Mein Mann wohnt eine Etage tiefer, weil er dement ist. Es war schwer, nicht mehr mit ihm zusammenzuwohnen, aber so ist es besser für uns beide. Ich kann ihn besuchen, aber ich habe nicht mehr die Verantwortung für alles allein. Auch für meine Kinder ist das eine Erleichterung.“ Sie zeigte mir stolz ihre Vitrine mit Porzellanfiguren, auf der Kommode stehen eingerahmte Fotos – ein Stück ihres alten Lebens, das sie mitnehmen konnte.
Senioren-WG: ein echtes Zuhause
Die enge Verbindung zwischen Senioren, Pflegekräften und Angehörigen macht diese Wohnform besonders wertvoll. „Es ist schön zu sehen, dass die Menschen hier nicht nur gepflegt werden, sondern ein echtes Zuhause haben“, sagt Katarzyna Orlik. „Familienangehörige können jederzeit vorbeikommen und sich einbringen – das schafft Vertrauen und Sicherheit.“
Wie bereitet man Angehörige auf den Umzug in eine Pflege-WG vor?
Der Umzug eines geliebten Menschen in eine Pflege-WG ist ein großer Schritt, sowohl für die Seniorinnen und Senioren selbst als auch für ihre Angehörigen. „Viele Angehörige stehen vor der Herausforderung, ihren Eltern oder Verwandten diesen Schritt zu erleichtern, ohne sie zu überfordern“, sagt Katarzyna Orlik.
Vorteile einer Pflege-WG
Ihr Rat: „Es ist wichtig, frühzeitig mit den Gesprächen zu beginnen und das Thema nicht erst in einer Krisensituation auf den Tisch zu bringen. Eine offene, ehrliche Kommunikation über die Vorteile einer Pflege-WG kann Ängste abbauen.“ Angehörige sollten ihre Eltern oder Großeltern aktiv in den Entscheidungsprozess einbinden. „Ein gemeinsamer Besuch in einer WG, um sich das Konzept anzuschauen, kann viel bewirken. Oftmals hilft es, wenn sich die Seniorinnen und Senioren selbst ein Bild machen können.“
Anett Hüssen ergänzt: „Es nimmt viel Druck heraus, wenn man mit seinen Eltern schon vorher überlegt: Wo könnte es mir gefallen? Was ist mir wichtig? So wird vermieden, dass man in einer Notsituation eine überstürzte Entscheidung treffen muss.“ Auch das Einrichten des neuen Zimmers mit vertrauten Gegenständen kann den Übergang erleichtern.
Kosten und Finanzierung einer Wohngemeinschaft für Senioren
Ein oft unterschätzter Punkt beim Thema Pflege ist die Finanzierung. „Pflege ist teuer – und viele Menschen sind sich dessen nicht bewusst“, erklärt Anett Hüssen. Die Pflegeversicherung übernimmt zwar einen Teil der Kosten, aber die Eigenbeteiligung kann erheblich sein.
Senioren-WG auch bei geringer Rente
In den Senioren-WGs gibt es eine Pflegepauschale von aktuell 180 Euro pro Tag bei Pflegegrad 4. Hinzu kommen Kosten für Miete, Verpflegung und persönliche Ausgaben. „Wir erleben oft, dass Familien überrascht sind, welche Beträge auf sie zukommen“, so Katarzyna Orlik.
„Doch es gibt Unterstützungsmöglichkeiten: Wer sich die Kosten nicht leisten kann, hat Anspruch auf Sozialhilfe in Form von ‚Hilfe zur Pflege‘. Damit kann der Aufenthalt in einer Senioren-WG auch für Menschen mit geringer Rente ermöglicht werden.“
Finanzierungsmöglichkeiten
Die Geschäftsführerinnen raten Angehörigen, sich frühzeitig über Finanzierungsmöglichkeiten zu informieren und Anträge bei den Pflegekassen oder Sozialämtern rechtzeitig zu stellen. „Es ist wichtig, die Kosten realistisch einzuschätzen und verschiedene Modelle zu vergleichen. Hierzu bieten wir als Pflegedienst gerne eine umfassende Beratung an.“ betont Anett Hüssen.
Auch Pflegekräfte profitieren von der familiären Atmosphäre
Neben den Bewohnerinnen und Bewohnern profitieren auch die Pflegekräfte von diesem Konzept. „Wir sehen, dass unsere Mitarbeitenden hier viel zufriedener sind als in klassischen Pflegeheimen“, sagt Katarzyna Orlik. „Sie betreuen eine kleinere Gruppe von Menschen und haben mehr Zeit für individuelle Pflege. Dadurch entsteht eine enge Beziehung, die sowohl für die Pflegekräfte als auch für die Senioren von Vorteil ist.“
Keine anonyme Schichtarbeit
Anett Hüssen ergänzt: „Hier gibt es keine anonyme Schichtarbeit. Unsere Pflegekräfte sind in den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner eingebunden. Sie kochen gemeinsam, verbringen Zeit miteinander – das macht die Arbeit erfüllender als in einer großen, stationären Einrichtung.“
Das Arbeitsumfeld ist zudem entspannter, weil es keine typische Krankenhaus- oder Pflegeheim-Atmosphäre gibt. „Viele unserer Pflegekräfte berichten, dass sie sich hier zum ersten Mal wirklich als Teil einer Gemeinschaft fühlen“, so Katarzyna Orlik.
Sind Senioren-WGs in Bürogebäuden ein Modell mit Zukunft?
Die Senioren-WGs der Hauskrankenpflege Depner zeigen, dass es Alternativen zum klassischen Pflegeheim gibt. Der Umbau von leer stehenden Bürogebäuden könnte in Zeiten von Wohnraummangel und steigender Pflegebedürftigkeit eine innovative Lösung sein – nicht nur für die Seniorinnen und Senioren, sondern auch für die Menschen, die sich tagtäglich um sie kümmern.
Dieses Modell stellt eine vielversprechende Möglichkeit dar, Pflegebedürftige würdevoll unterzubringen und gleichzeitig Pflegekräften ein angenehmeres Arbeitsumfeld zu bieten. Vielleicht sehen wir in Zukunft noch mehr solcher kreativen Wohnlösungen, die den Wandel in der Pflegebranche vorantreiben.
Mehr erfahren:
Webseite Hauskranken Pflege Depner
Autorin: Claudia Mattheis
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